Nr. 87 – Heut‘ ist die Textilwelt anders!

wordcraft.at / Handelsagenten Spotlight

Mai 2023

Sein Schauraum gibt den Blick frei auf die Wiener Staatsoper. Gerhard Wilfing und seine Agentur sind eine erste Adresse in der Textilbranche. Seit seinem Start vor rund 40 Jahren hat sich – wie in anderen Branchen – bei den „Textilanten“ vieles geändert.

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Gerhard Wilfing
Spotlight: Wenn man einmal zu den Routiniers einer Branche gezählt wird, erkennt man bei dem Rückblick auf die Zeit seit dem eigenen Beginnen die Veränderungen besonders deutlich?

Wilfing: In unserer Branche betrifft das hauptsächlich den Geschäftsrhythmus (Aufeinanderfolge der Kollektionen), die Konzentrationen auf allen Ebenen, natürlich den technischen Fortschritt und damit die zwingenden Anforderungen an den Handelsagenten.

Spotlight. In den 60ern hat es genügt, wenn das neue Frühjahrskostüm der Konsumentin ein paar Tage vor Ostern zur Verfügung stand. Sonst war die „Osterparade“ für die Damen mit weißen Handschuhen, Handtasche und Hütchen geschmissen.

Wilfing: Auch in den 80ern gab es noch 2 Kollektionsvorlagen, da war hoher Eifer geboten, dazwischen lief es eher gemächlich dahin. Die Detailhändler mussten sich eindecken und verkaufen. Zwischenbelieferungen waren kaum möglich.Heute versucht der Händler das Risiko der Lagerhaltung auf den Lieferanten zu verlagern und der macht in etwa dasselbe mit dem Vorlieferanten.

Spotlight. Das hat man jüngst bei den Lieferkettenproblemen zu spüren bekommen. Corona und der Ukrainekrieg haben für die europäischen Staaten Erweckungscharakter.
Die in der Krise fehlenden Produkte sollen plötzlich wieder in Europa produziert werden. Damit wäre wahrscheinlich der Kostenvorteil der außereuropäischen Produktionsplätze ebenso dahin, wie der daraus resultierende Preisvorteil.

Wilfing:  Es wäre notwendig mit den abgebauten Maschinen auch gleich die Bedienungsmannschaften wieder nach Europa zurückzuholen, weil es diese Fachleute über weite Strecken in der EU gar nicht mehr gibt (Beispiel Strickmeister). Dazu kann man sich vorausdenkend die Folgen der 32-Stunden-Woche überlegen. Allein das ständige Gerede davon wird bei den Erzeugern die Berechnung weiterer Automatisierungsschritte in Gang setzen.

Spotlight. Was hat sich in der Händlerszene getan?

Wilfing: Die Konzentrationsbewegung ging voran. In den wichtigen Städten stellen sich weiterhin die Erzeuger selbst mit ihren Flagshipstores den Konsumenten in den Weg. Durch shop-in-shop bei Großflächenanbietern werden die Marken noch sichtbarer. Manche sind mit erzeugereigenem Personal besetzt. Für die vergleichsweise kleinen in- und ausländischen Produzenten und damit auch für Handelsagenten wird das Leben herausfordernder. Die zum Teil existenzbedrohenden Einkaufskonditionen der Händlergiganten lassen Erzeugern nur die enge Straße kleiner Spezialdetaillisten. Im Grunde walzt der Mainstream alles nieder.

Spotlight. Und die Handelsagenten…?

Wilfing:  …. müssen alles dazu beitragen Geschäfte mit individuellem Charakter zu erhalten. Das führt zu einem engeren Verhältnis zu den Händlern und deren Personal. Heute muss der Handelsagent perfektes Wissen haben in Fragen digitaler Unternehmensführung, in Finanzfragen, Merchandising, in permanenter Unterstützung des Händlerpersonals (nicht nur was die Produkte des Erzeugers betrifft), im Herstellen kooperativer Verbindungen zu anderen Händlern usw.
Handelsagenten sind sich dessen bewusst, dass sie 2 x verkaufen müssen. Einmal an den Wiederverkäufer und ein 2.Mal an den Konsumenten, indem man den Händler dabei unterstützt das Produkt von A bis Z überzeugend über den Ladentisch zu bringen.

Spotlight. Kurz und bündig. Hat der mittelständische Textilhandel echte Chancen?

Wilfing: Wenn er gut aufgestellt ist – ja. Aber da muss halt alles passen.

Spotlight. Bis jetzt haben wir das Internet außer Acht gelassen.

Wilfing: Bekanntlich ermöglicht der stationäre Handel schon beim Auswählen eine haptische Begegnung mit der Ware. Das Befühlen und Prüfen z.B. des Materials oder der einfachen Handhabung sind für viele Menschen ein zwingender Bestandteil des Kaufs. So wird dieser zum Erlebnis.
Bald wurde im Handel erkannt, dass man Kunden darüber hinaus auf unterschiedlichen Ebenen (auch auf digitalen) Angebote und Beratung, ja selbst die Kaufabwicklung anbieten muss, um mit ihnen im Kontakt zu bleiben.
Das Zauberwort heißt Omnichannel.
Solange der Onlinehandel sich auf schnell-schnell und billig-billig konzentriert, bleibt dem stationären Handel unter anderem der Kundenkreis, der sich das Kauferlebnis nicht entgehen lassen will. Ein Kauferlebnis, das mehr ist als eine Schachtel vor der Haustüre.
Ein Spaziergang ist das Textilgeschäft jedenfalls nicht.

Spotlight. Danke für das Gespräch.

©walterkrammer (wct)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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