Dieser Artikel basiert auf einer Ausgabe des Handelsagenten Spotlight aus dem Februar 2022
Mit 8 konnten Sie gut lesen, mit 15 Gelesenes sinnvoll erfassen, mit 20 Ihre Gedanken vernünftig zu Papier bringen. Das ermöglichten Ihnen die Kulturtechniken LESEN und SCHREIBEN. Ein Analphabet kann das nicht.
Nicht weil er dumm ist. Er hat es einfach nicht gelernt. Und jetzt stellen Sie sich alles vor, was Sie nicht hätten bewältigen, nicht hätten erreichen, an dem Sie nicht hätten teilnehmen können, von dem Sie ausgeschlossen worden wären – wegen Ihrer mehr oder minder großen Mängel in zentralsten Funktionen menschlicher Kommunikation. Die man nicht nur täglich ganz selbstverständlich nützt, sondern z.B. ebenso für den Umgang mit Behörden zwingend braucht.
Zugegeben, man hört nie, dass Menschen, die des Lesens und Schreibens unkundig sind, deswegen ihr Leben nicht führen können. Sie haben einen Job, der sie diesbezüglich möglichst nicht in Schwierigkeiten bringt, manche leiten sogar ihr kleines Unternehmen. Sie bringen sich durch. Zur Zeit Gutenbergs und seiner neuen Druckmaschine gab es viele, die mit diesem Manko lebten. Karrierefördernd war es schon damals nicht.
Mit meinen digitalen Fähigkeiten geht es mir so ähnlich.
Die nebenher gestellte Frage „Geben Sie mir Ihre Emailadresse?“ ist kein Problem für mich. Klarerweise besitze ich einen Laptop und bin im Internet. Den Digi-Rest erledigt mein Handy. Der Rechner hat sich bisher als Schreibmaschine bewährt und Excel stellt meine Tabellen zusammen. Ich weiß in Wirklichkeit nicht, wie das alles funktioniert.
Dass mich Banken, Versicherungen, Stromlieferanten etc., aber auch Behörden in ein unpersönliches Digitalsystem zwingen, nervt mich. Ich will Kontakt zu Menschen haben, nicht zu einer übermächtigen Maschinerie.
So tümple ich also dahin am Rande des digitalen Analphabetentums. Für die Bewältigung einer totalen digitalen Herausforderung reicht das nicht.
Am 19.2.22 schrieb Stefan Thurner, Prof. für die Wissenschaft komplexer Systeme an der MedUni Wien, in einem bemerkenswerten Artikel in der Tageszeitung DIEPRESSE: „Digitaler Analphabetismus grenzt aus, genauso wie analoger. Schon jetzt fühlen sich viele nicht mehr „abgeholt“. Und weiter, dass in Bälde die digitale Welt die reale Welt sein wird.
Die herrschenden Gesetzmäßigkeiten werden im globalen Umfang nur mehr diesem Prinzip folgen, weil es niemandem, keiner Wirtschaft, keiner Gesellschaft, keinem Staat und keinem Individuum gelingen wird, sich der Entwicklung zu entziehen. Was sind die Konsequenzen? Schon der Kampf gegen den Klimawandel ist ein globaler und digitaler.
Wissenschaft und Forschung, Technik, Künstliche Intelligenz, Medizin, Kommunikation, Militär, Weltwirtschaft, Nahrungsmittelerzeugung ……..?
Die Digitalisierung wird sich von einer Technik mit Selbstverständlichkeit zur Grundlage eines Lebensstils entwickeln. Wie gut wird Europa Schritt halten können? Wie sehr wird die heute 3. und 4. Welt zurückgeworfen werden?
Wenn man den Gedanken zu Ende führt, erkennt man, was diese Revolution brauchen wird: wissende Menschen, Anstrengungen mit an der Spitze zu bleiben, ein neues gesellschaftliches Bewusstsein und ein völlig reformiertes Bildungssystem, sowie gewaltige Investitionen nicht nur des Staates, sondern auch aus dem privaten Sektor. Kleine Länder, kleine Unternehmen stehen vor gewaltigen Herausforderungen. Wer sich nicht aktiv anpasst, wird abgeworfen werden. Ein Experte hat meine Vermutung verneint, dass im Gegensatz zu den Alten die heute 15 – 25jährigen als sogenannte digital natives die Digitalisierung gleichsam in ihrer DNA hätten. Ihnen drohe mehr Gefahr, weil die bevorstehende Berufstätigkeit den perfekten Umgang mit dieser Technik mit Unerbittlichkeit fordern werde. Die Bildungs- und Ausbildungsschere werde sich deutlich öffnen. Neue Eliten werden sich bilden und an die Führungspositionen drängen.
Die Schwerpunkte und Früchte der industriellen Revolution, die Europa 200 Jahre lang an der Spitze hielten, drohen ihre Bedeutung zu verlieren. Der Fokus der Big Player liegt auf Amerika und Asien, während die Kommissionspräsidentin von einem autarken Europa träumt. Im Moment sieht es nicht so aus, als könnte bzw. wollte jemand diese Strömung stoppen.
Corona deckte bei home learning und home office bestehende Defizite auf.
Nach meiner Überzeugung wird jeder, ausgenommen jene, die schon tief im Seniorat stecken, die Digitalisierung total verinnerlichen müssen, weil es keinen Winkel ihres Lebens geben wird, in dem man ohne digitale Fähigkeiten und das dazu gehörenden Bewusstsein zurecht kommen kann. Aber nicht als passiver Konsument einer Lebensumgebung, die ohne eigenes Zutun zurechtgezimmert wurde. Sondern als ständig aufmerksam Lernender, der seinen Platz in dieser neuen Welt, (ob einer schönen, weiß man nicht) suchen und finden muss. Wie viele werden das können?
© walter krammer (wct)
|
4 Kommentare. Leave new
Dax und Pilch haben ein futuristisches Bild der menschlichen Gesellschaft in ferner (?) Zeit entworfen. Mich interessiert aber der Zeitraum eines Menschenalters.
Wer sorgt dafür, dass die schnell voranschreitende Entwicklung auf dem Sektor der Digitalisierung auch die Menschen mitnimmt. Ist das nicht der Fall, übernimmt eine eng begrenzte Schicht der Wissenden die Führung der Gesellschaft. Dann wird die demokratische Ordnung eines Staates möglicherweise auch in Schieflage geraten.
1940 hat Isaac Asimov am Schluss von „I Robot“ geschrieben:
“But you are telling me, Susan, that the ‘Society for Humanity’ is right; and that Mankind has lost
its own say in its future.”
“It never had any, really. It was always at the mercy of economic and sociological forces it did not
understand — at the whims of climate, and the fortunes of war. Now the Machines understand
them; and no one can stop them, since the Machines will deal with them as they are dealing with
the Society, — having, as they do, the greatest of weapons at their disposal, the absolute control of
our economy.”
“How horrible!”
“Perhaps how wonderful! Think, that for all time, all conflicts are finally evitable. Only the
Machines, from now on, are inevitable!”
Wer heute mit Alexa oder Siri kommuniziert geht die ersten zögernden Schritte der Kommunikation mit AI. Diese wird uns bald abholen und die heutige „Digitale Kompetenz“ die im Wesentlichen im Ausfüllen von Onlineformularen besteht recht alt aussehen lassen.
Der oben zitierte Text von Asimov ist Ende und Höhepunkt eines Dialogs mit der AI, welche die Weltregierung verkörpert und ist weit näher an der Wahrheit als die heute in facheinschlägigen Artikeln vertretenen Zukunftsanalysen.
Auf lange Sicht ist alles anders. Die Hannibal-Story hat mir besonders gefallen.
Auch wenn ich das Privileg hätte zu wissen, in wie vielen Jahren ich mir keine Sorgen mehr machen muss, bedingt durch meine neue Wohnstätte 3 meters under, muss ich mit den Geschehnissen bis dahin zurechtkommen. Und viele andere auch.
Der digitale Umgang ist also für geschätzte 6 – 7 Milliarden ein tägliches Problem. Die Frage des Beitrags ist, ob und wie die derzeit lebenden Menschen das Problem für sich lösen und welche soziale Zurücksetzung sie erleben werden, wenn sie dazu nicht imstande sein werden.
In 100 Jahren von jetzt wird man sich nicht mehr die Frage stellen, ob die Kenntnis von Excel, Facebook und vielleicht sogar AI ausreicht, um unsere Welt zusammenzuhalten, sondern man wird sich die Frage stellen, ob Lambda ähnlicher Regulierungen bedarf, wie wir sie heute aus vielen Bereichen unseres Daseins kennen.
In 500 Jahren von jetzt wird man sich die Frage stellen – nachdem Lambda ausreichend reguliert wurde – ob ein auf Hologrammtechnik und Quantenmechanik basierender Avatar, ausgestattet mit Emotionen und in unterschiedlichen persönlichen Ausprägungen doch endlich 100% zu meiner Erwerbstätigkeit beitragen kann, damit ich mich selbst ein Leben lang auf einer stillen Insel den wahren Genüssen des Lebens hingeben kann.
Ach ja, und vor rund 2000 Jahren, als Hannibal sich mit dem römischen Reich anlegte, war dieser wohl stolz auf seine Errungenschaft, Spionagedienste in einer Art und Weise einzurichten, die ihm im Vergleich zur römischen Armee einen entscheidenen Geschwindigkeitsvorteil brachten, seinen Gegner zu beobachten und Rückschlüsse auf dessen Verteidigung abzuleiten um so als Sieger hervorzugehen. Ein damaliger Geschichtsschreiber hätte sich wohl die Frage gestellt, ob diese Art des Kommunikationssystem den damaligen jungen vielleicht als DNA in die Gene geschrieben wird….ohne nicht mal im entferntesten von Dingen wie facebook oder email zu ahnen!
Ich mache mir keine Sorgen um Menschen die heute nicht die Eigenschaften besitzen, sich digitalen Medien annähern zu wollen, ich mache mir eher Sorgen, dass ich in 500 Jahren nicht mehr in der Lage sein werde, all das zu verstehen und zu begreifen was da digital auf uns zukommt. Ist aber vielleicht auch nicht wichtig, da ich voraussichtlich dann nicht mehr am Leben sein werde, darum kümmern sich dann andere.
Fast hätte ich es vergessen: Lambda ist übrigens eine von Google in Entwicklung befindliche AI Platform, die menschliches Verhalten lernt und imitiert. Das geht weit über das hinaus, was wir heute als nur Künstliche Intelligenz kennen.
Punctum Saliens: die digitale Evolution findet statt, und sie wird weitergehen, und sie wird unabhängig davon existieren, ob Menschen sich nun damit beschäftigen (wollen) oder nicht.